Pflege wird in Deutschland oft in klassischen Familien gedacht: Kinder pflegen ihre Eltern, Partner:innen kümmern sich umeinander. Doch in Berlin sieht das Bild vielfältiger aus. Hier übernehmen auch Wahlfamilien – also Freund:innen, Nachbar:innen und Partner:innen – Verantwortung für Pflegeempfangende.
Gerade in der LSBTIQ*-Community sind Wahlfamilien von großer Bedeutung. Sie fangen auf, wo biologische Familien fehlen oder keinen Kontakt halten. Doch sie stoßen im Pflegesystem auch auf Barrieren. Wir haben mit drei An- und Zugehörigen gesprochen, die in Berlin Pflegeaufgaben übernommen haben. Sie berichten über Hürden, ihre Selbstfürsorge und die Kraft der Community. Erfahrungsberichte aus der Pflege An- und Zugehörige LSBTIQ Berlin: Stimmen aus Wahlfamilien:
„Wir sind Wahlgeschwister – und genau so leben wir auch Pflege“
Interview mit Alex (52) und Daniel (49)
Frage: Wie kam es dazu, dass ihr die Pflege für euren Freund Tom übernommen habt?
Alex: „Tom ist seit 25 Jahren Teil unserer Wahlfamilie. Wir haben zusammen durch die Clubs in Kreuzberg getanzt, unzählige Nachmittage im Café Kirsche bei Kaffee und Kuchen verbracht und gemeinsam Ades Zabel im BKA Theater gelacht. Er gehört einfach zu uns. Als er nach einer Operation pflegebedürftig wurde, war sofort klar: Wir lassen ihn nicht allein.“
Frage: Welche Rolle spielt die Wahlfamilie dabei?
Daniel: „Eine riesige! Wir organisieren uns wie eine kleine WG: Ich übernehme die Arzttermine, Alex die Einkäufe. Andere aus unserer Wahlfamilie springen ein, wenn wir Unterstützung brauchen. Und manchmal treffen wir uns nach einem langen Tag im Prinzknecht auf ein Bier, um kurz durchzuatmen. Für uns ist das selbstverständlich – aber im Pflegesystem müssen wir oft erklären, warum unsere Familie eben nicht die klassische ist.“
Frage: Gab es Hürden im Berliner Pflegesystem?
Alex: „Ja. Uns wurde mehrmals gesagt: ‚Sie sind ja gar keine Angehörigen.‘ Das hat wehgetan. Als ob unsere Bindung weniger wert wäre, nur weil wir keine Blutsverwandten sind. Erst über eine Pflegeberatung haben wir gelernt, dass wir trotzdem viele Ansprüche geltend machen können.“
Frage: Was hilft euch, durchzuhalten?
Daniel: „Die Wahlfamilie und die Stadt. Wir gönnen uns Abende, an denen wir einfach mal nicht an Pflege denken. Ein Dragabend im SchwuZ oder ein Konzert im SO36 – solche Momente geben uns Kraft und erinnern uns daran, dass unser Leben bunt bleibt.“

„Als lesbisches Paar mussten wir uns Respekt erst erkämpfen“
Interview mit Kerstin (61) und Ute (64)
Frage: Ihr habt euch entschieden, die Mutter von Ute zu pflegen. Wie war der Anfang?
Ute: „Wir wohnen in Berlin-Neukölln und haben meine Mutter zu uns geholt. Für uns war das selbstverständlich. Aber die Reaktionen von Pflegediensten waren nicht immer sensibel.“
Frage: Was meint ihr damit?
Kerstin: „Es gab Kommentare wie ‚Ach, Sie sind nur die Freundin‘ – obwohl wir seit 30 Jahren ein Paar sind. Das tat weh und hat gezeigt: Queersensible Pflege ist noch nicht selbstverständlich.“
Frage: Welche Unterstützung war für euch hilfreich?
Ute: „Die Schwulenberatung Berlin hat uns Tipps gegeben, welche Anbieter:innen LSBTIQ*-freundlich arbeiten. Und wir haben den Entlastungsbetrag genutzt, um eine Alltagshilfe zu finanzieren – das hat uns Luft verschafft.“
Frage: Und was macht ihr für euch selbst?
Kerstin: „Wir gönnen uns bewusst kleine Auszeiten. Manchmal frühstücken wir im Café Morgenland, manchmal besuchen wir das Kino International. Und im Sommer fahren wir raus zum Wannsee, sitzen am Wasser und schalten ab. Diese Momente sind Gold wert.“
„Manchmal ist ein Gespräch im Sonntags-Club meine Rettung“
Interview mit Deniz (39)
Frage: Du pflegst deinen Onkel. Wie kam es dazu?
Deniz: „Mein Onkel ist schwul, 72 und lebt seit den 80ern in Berlin. Er war immer für mich da, als ich mich geoutet habe. Jetzt bin ich für ihn da. Er ist meine Familie, auch wenn wir nicht verwandt sind.“
Frage: Was ist die größte Herausforderung?
Deniz: „Ich arbeite Vollzeit. Abends kümmere ich mich um ihn, helfe im Haushalt, begleite ihn zu Terminen. Manchmal bin ich einfach erschöpft. Das Gefühl, nie ganz frei zu sein, ist schwer.“
Frage: Was gibt dir Kraft?
Deniz: „Die Treffen im Sonntags-Club. Dort reden wir über Pflege, über das Leben, über Politik. Es gibt Abende mit Lesungen, queere Kultur und einfach ehrliche Gespräche. Ich merke: Ich bin nicht allein, andere kennen die gleichen Sorgen. Das hilft mir, weiterzumachen.“
Fazit: Stimmen, die gehört werden müssen
Erfahrungsberichte Pflege An- und Zugehörige LSBTIQ Berlin: Stimmen aus Wahlfamilien
Diese Beispiele zeigen: Pflege in Berlin ist vielfältig – und Wahlfamilien tragen große Verantwortung. Für An- und Zugehörige aus der LSBTIQ*-Community bedeutet Pflege oft doppelte Belastung: praktische Herausforderungen und der Kampf um Anerkennung.
Doch sie zeigen auch: Selbstfürsorge, Gemeinschaft und queersensible Beratungsstellen machen einen Unterschied. Berlin bietet viele Ressourcen – wichtig ist, sie zu kennen und zu nutzen.
👉 Unterstützung bekommst du bei unserer Pflegeberatung (§ 7a), bei unseren Alltagshilfe-Leistungen oder direkt über unsere Kontaktseite.